Das muss man sich erst mal trauen: Peter Gabriel spielt auf seiner aktuellen Tour 50% der Setlist Titel von seinem neuen, nur teilweise veröffentlichten Album. 11 Stücke, bleibt nur noch Platz für 11 Hits aus alten Zeiten, von denen schon einmal zwei in ungewöhnlichen, reduzierten Versionen am Lagerfeuer zum Konzertbeginn abgefrühstückt werden.

Statt mit einem Knalleffekt oder einem dramatischen Soundintro startet das Konzert mit dem unspektakulären Auftritt Peter Gabriels auf der Bühne, der erstmal – auf Deutsch – ein wenig über das kommende Konzert, die Abba-Avatare und die Idee hinter der Show erzählt. Thematisch geht es ein paar Milliarden Jahre zurück, als die ersten Bausteine des Lebens durch Meteoriteneinschläge auf die Erde kamen. Die Entstehung von Leben setzt das Thema. Symbolisch lässt er das Lagerfeuer auf der Bühne entzünden. Dann braucht man Wasser. Tony Levin kommt auf die Bühne und die Beiden beginnen das erste Stück des Abends zu spielen… allerdings ein unterschiedliches, wie sich schnell herausstellt. Peter hatte vergessen, dass er bei den Shows in Deutschland mit einer deutschen Version von Here comes the Flood beginnt. Egal, der zweite Versuch klappt, gefolgt von einer akustischen Version von Growing Up mit dem Rest der Band, immer noch am Lagerfeuer.

50% neues Material

Dann geht es elektrisch und mit vollem Einsatz der Bühne mit Stücken des neuen Albums weiter. Den Anfang macht der bereits veröffentliche Song Panopticom. Auch bei den neuen Songs schafft Gabriel es, das Publikum zum Mitklatschen zu bewegen, was in Deutschland ja nicht schwer ist.  Die Refrains der neuen Songs sind durchaus eingängig und wären zu Zeiten des us-Albums auch hitverdächtig in Kombination mit entsprechenden Musikvideos gewesen, aber die Zeiten haben sich wohl geändert. Neben einem zwischendurch eingestreutem Digging in the Dirt und Sledgehammer als Set-Closer der ersten Hälfte, gab es im ersten Set des Konzertes reichlich neues, unbekanntes Material.

Ich hatte mir – zumindest was die Setlist, Konzertberichte und Youtube-Schnipsel dieser Tour angeht, zuvor digitalen Detox verabreicht und ging völlig unvorbereitet in den Abend. Für mich war es ein tolles, faszinierendes Erlebnis. Das ging scheinbar nicht allen Konzertbesuchern so. Der Typ ein paar Reihen vor uns, der bei Gabriels erstem Erscheinen auf der Bühne aufsprang, rumpfiff und „Peter, I love you!“ brüllte, verzog sich bei den neuen Songs dann schnell nach draußen an den Bierstand. Wie kann man sich einem Künstler, den man vorgeblich liebt, so respektlos gegenüber verhalten, wenn er einem sein neues Material präsentiert? Ich werde es ebenso wenig verstehen wie die Leute, die während der Zugaben aufbrechen, um bequem als eine der ersten vom Parkplatz zu kommen.

Die Youtube-Abstinenz hatte ich mir auch verordnet, um mich von der Show zu überraschen. Peter Gabriel ist ja bekannt für innovative Bühnenkonzepte. Schon 1987 schraubte er die Vari*Lights seiner Genesis-Kollegen zusätzlich auf schienengeführte und manuell bediente Krangestelle und sorgte so für eine unglaubliche Licht-Dynamik auf der Bühne.

Peter Gabriel hat es schon gemacht

Wenn einem heute junge Leute stolz Videos von Taylor Swifts Kopfsprung in ein Loch ihres LED-Bodens auf der B-Stage, inklusive animiertem Tauchgang zur Hauptbühne (ein riesiger LED-Screen) und ihre Rückkehr in einer Wolke zeigen, kann der Peter Gabriel Fan nur lächeln. Diese Idee haben Gabriel und David Lepage bereits 1993 – also vor 30 Jahren – auf der Secret World Tour realisiert. Damals ließ Peter seine gesamte Band in einem Koffer verschwinden, schleppte Sie zur B-Stage und packte sie dort wieder aus. Auch das Konzept der großen, runden B-Stage, die damals für die Weiblichkeit als Kontrast zur eckigen, die Männlichkeit repräsentierenden, Main-Stage stand, stammt von den beiden.

Von den ersten Ansätzen einer runden Bühne mitten im Publikum der Growing Up Tour, die bis heute fast jeder namenhafte Act kopiert hat, wollen wir gar nicht erst reden.

Große Bekanntheit erreichten seine Meilensteine setzenden Musikvideos. Die Zusammenarbeit mit Videokünstlern ist bis heute Bestandteil seiner Bühnenshows. Löblich, dass er auch erwähnt, mit welchen verschiedenen Künstlern er diesmal zusammen gearbeitet hat bei den verschiedenen Songs.

Elegante Spiegelspiele

Auch in diesem Jahr erfreut Gabriels Bühne den technik-affinen Zuschauer. Auf den ersten Blick mag das terrassierte Kreisviertel, auf dem die Band steht etwas bieder wirken. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass wenig Beleuchtungsequipment zu sehen ist. Weder finden sich vor der Bühne die üblichen Licht-Trassen unter der Hallendecke, noch gibt es seitliche Scheinwerfer-Batterien wie auf der letzten Tour. Die Bühne wirkt aufgeräumt.   

Hinter der Band hängen acht verfahrbare LED Panels, die im Laufe des Abends ausgiebig genutzt werden. Etwas übertrieben wirkt hingehen dahinter das per Extra-Treppe erreichbare Podest, das bei einem Song von der Cellistin genutzt wird.

Über der Bühne hängt ein ebenfalls beweglicher, kreisrunder LED-Screen, der doch sehr stark an den in Pink Floyd Kreisen üblichen Mr. Screen erinnert. Es fehlen lediglich die Moving Heads im Außenring. Ganz unterhaltsam in der Wartezeit vor dem Konzert: Auf dem Screen ist ein Ziffernblatt zu sehen. Hinter dem Ziffernblatt sieht man einen Bühnenarbeiter im orangen Overall, der tatsächlich jede Minute seelenruhig die Zeiger passend zur Uhrzeit neu malt und danach gewissenhaft wieder wegwischt. So komisch es auch klingt: Es ließ die Wartezeit vor dem Konzert irgendwie schneller vergehen.

Die Zuschauer auf den Rängen bemerken auch den (Teil-)LED-Boden, der das Geschehen des großen runden LED-Screens auf dem Boden widerspiegelt.

Sobald die Show optisch ab dem dritten Song an Fahrt aufnimmt bekommt man auch eine wie ich finde extrem elegante Lösung für die seitliche Beleuchtung der Band zu Gesicht: Von oben werden kreisrunde, angewinkelte Spiegel an der linken und rechten Bühnenseite herabgelassen. Im späteren Verlauf auch hinter der Band. Diese Spiegel werden von senkrecht darunter dezent platzierten Spots beleuchtet und so die Band über Bande ins rechte Licht gesetzt. Eine optisch sehr ansprechende Lösung.

Sonst sehen wir viele Konzerte in Berlin. Diesmal haben wir zum Glück aus terminlichen Gründen das Konzert in der Waldbühne nicht wahrnehmen können. Das kleine Bühnendach erlaubte hier nur einen reduzierten Aufbau der Bühne. Dazu fand ein Großteil der Show bei Tageslicht statt, was bei einer Peter Gabriel Show von Nachteil ist. Hamburg war da die bessere Wahl. Nächste Woche beim The Who Konzert auf der Waldbühne dürfte dieser Umstand wiederum egal sein.

Über die Band braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Tony Levin und David Rohdes sind alte Bekannte, Manu Katché ist der Band nach der so-Revival Tour zum Glück erhalten geblieben. Er stach für mich an diesem Abend besonders hervor. Einziger Wehmutstropfen: Gabriel hat die Band um einen Bläser ergänzt, was mir persönlich überhaupt nicht gefallen hat. Die anderen Neuzugänge machten einen tadellosen Job.

Big Time

Zurück zum Konzert: Das zweite Set startet mit einem weiteren Stück des up-Albums: Darkness. Hier trennt die Band eine halbtransparente Leinwand vom Publikum, die von zwei Beamern unter der Hallendecke bespielt wird, und Gabriel so Teil der Videoanimationen werden lassen.

Zwischen weiterem neuem Material prasselte dann noch ein warmer Sommerregen in Form von Red Rain auf uns herab. Die Mannschaft am Lichtpult hatte hier viel zu tun, ganz nach unserem Geschmack.

Dann fragt Peter plötzlich „What time is it?“. Während man noch darüber nachdenkt, merkt man plötzlich: It’s Big Time, die am wenigsten erwartete Überraschung des Abends für mich. Hat mich sehr gefreut. Nach einem weiteren, neuen Song (Live and let Live) beendet Solsbury Hill das zweite Set, gefolgt von In Your Eyes und Biko als Zugaben. Sicherlich klasse Songs, aber auch auf jeder Tour bisher vertreten. Da hätte man sich fast ein paar ausgefallenere Songs aus Peters großer Hit-Kiste gewünscht. Das hätte dann aber bei den unsäglichen „Best-of-Fans“ im Publikum das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.

Etwas Whataboutism 

Noch ein paar ketzerische Worte und etwas Whataboutism zum Abschluss. Auch Peter Gabriel ist ein Unterstützer der BDS-Kampagne und hat sich mit Roger Waters solidarisiert, als dessen Konzert in Frankfurt abgesagt werden sollte. Proteste oder den Versuch von Auftrittsverboten gab es weder in Hamburg noch an den anderen Auftrittsorten in Deutschland, einschließlich Frankfurt. Auch wegen des World-Music-Songs In Your Eyes hat man ihm niemand versucht kulturelle Aneignung vorzuwerfen. Gut so! Einen VIP-Bereich vorne an der Bühne gab es übrigens auch, aber hier tummelten sich primär ältere Herren in zu engen Genesis-T-Shirts. Kein Anlass für die Lokalpolitik, um sich medienwirksam zu profilieren.

Setlist

Set 1:

Hier kommt die Flut  

Growing Up

Panopticom

Four Kinds of Horses

i/o

Digging in the Dirt

Playing for Time

Olive Tree

This Is Home

Sledgehammer

Set 2:

Darkness

Love Can Heal

Road to Joy

Don’t Give Up

The Court

Red Rain

And Still

Big Time

Live and Let Live

Solsbury Hill

Encore 1:

In Your Eyes

Encore 2:

Biko