Sechsundzwanzigster April Zweitausend. Die alte Freundin ist futsch, die neue irgendwie noch nicht da. Das gesamte bislang bekannte Leben löst sich gerade im Zigarettenqualm meiner Kreuzberger Studenten-WG auf; Ersatz ist nicht in Sicht. Ein paar hundert Meter weiter prangen schwarze Buchstaben über dem Eingang der Columbiahalle. Lou Reed. Ecstasy.
Irgendwann mit siebzehn, ich hörte damals noch völlig irrelevante Musik, bekam ich eine Mixkassette in die Hände, deren B-Seite mit „I’m waiting for my man“ begann. Für mich war bald klar, dass, wenn es Schmerz in dieser Welt gab, nur The Velvet Underground vermochte, diesen auszudrücken. Die Stimme von Nico, dem drogensüchtigen deutschen Model aus Köln, machte mich fertig. Trotzdem hörte ich „Heroin“ zum Einschlafen. Für bessere Zeiten besorgte ich mir Lou Reeds New York-Album und war erlöst. Kein anderes Rock-Album hat mich so lange und konstant begleitet. Der Groove von „Beginning of a Great Adventure“ ging auch beim hundertsten Mal bis tief ins Innere. „Christmas in February“ lief das ganze Jahr. Nach all der Velvet Underground-Erfahrung gründete ich zwar keine Band, wie Brian Eno behauptete, aber wenn ich in meine Heimatstadt kam, spielte ich als Party-Gag „Small Town“ aus „Songs for Drella“ auf dem Klavier an.
Nun also Lou Reed in der Stadt, direkt nebenan, und er bringt „Ecstasy“ mit, und ich weiß schon damals, dass er nicht nur gefühlt meine Vergangenheit in Rock-Akkorde hüllt, sondern auch meine Zukunft in Krachteppichen vor mir auswalzt. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn er mich mit „Turning Time Around“ quält. Vor der Columbiahalle steht ein Typ, der mit sechzehn exakt so aussieht wie Lou Reed in den Sechziger Jahren, exakt mit Lederklamotten, eine perfekte Kopie. Drinnen baut sich eine seltsame Band auf: Lou, daneben ein kahlhäuptiger Familienvater an der Gitarre, ein hibbeliger Südländer am Bass; zusammen mit dem muskulösen Schlagzeuger sehen die Jungs aus wie eine Garagenband von der Ecke. Bei späteren Konzerten kam noch diese Frau am Cello dazu, die sah aus wie eine finnische Austauschschülerin. Lou haut zu Beginn mit „Paranoia Key of E” rein, schiebt gleich „Modern Dance“, so etwas wie unsere WG-Hymne, nach und hat sich spätestens bei „Set the Twilight Reeling“ in den unauslöschlichen Teil des Gedächtnisses gebrannt. Das Konzert wirkt.
Nach dem „Ecstasy“-Album kam noch „The Raven“, und danach rutschten seine Platten langsam im Regal nach hinten; vorn standen jetzt andere Singer-Songwriter ähnlichen Alters. Nur kehrte Lou Reed eben immer wieder zurück. Ob „September Song“ von einer Kurt-Weill-Kompilation, das legendäre „Metal Machine Music“-Konzert, traurige „Vanishing Act“-Abende oder „How do you think it feels?“ aus „Berlin“, das mir irgendwie fast jeden Tag im Kopf herumging. Jetzt stöbere ich in Nachrufen, pfeife wieder „How do you think it feels?“ und merke, dass mir längst nicht alle Songs von Lou Reed geläufig sind. Macht nichts. Im Rückblick ist das Leben ein Plattenregal. Und „Ecstasy“ liegt geöffnet drauf.