Eins.
Ende April 2000. Die Verstärker jaulen und brummen. Vor den markerschütternden Trommeln von Tony „Thunder“ Smith liefern sich Lou Reed und sein Ex-Schwager Mike Rathke wüste Schweinerock-Gitarrenduelle. Dazu diese durchdringende, verlebte Stimme, der man nicht ausweichen kann. Der Bass bollert, das Feedback bratzt durch die Halle. Ich erinnere mich, wie der Staub in großen Flocken von den Wickelfalzröhren der Klimaanlage unter der Decke auf die Bühne und das Publikum schneit.
Mein erstes Lou Reed Konzert in der Columbiahalle war eines der eindrücklichsten und unvergesslichsten, die ich überhaupt je besucht habe. Reed war mit seiner jahrelangen Kernband in kompakter Rockbesetzung unterwegs und spielte einen Mix aus dem gelungenen, aktuellen Album „Ecstasy“ und dem erhabenen Vorgänger „Set The Twilight Reeling“ („Riptide“!). Dazu einige Klassiker wie „Romeo had Juliet“ aus „New York“. Das elektrisierte „Smalltown“ wurde von uns, die wir aus dem Ostwestfälischen zum Studieren nach Berlin gezogen waren, als Hymne gefeiert. Kreuzberg kam uns damals irgendwie wie Brooklyn vor. Neben dem Bitterbösen schwingt grade in den Songs aus Reeds Spätwerk viel Augenzwinkerndes, Selbstironisches und manchmal Urkomisches mit. „Modern Dance“, „Tatters“ und „Mad“ sind mir als solche jungen Klassiker von diesem Abend in Erinnerung. Beim heftigen „Dime Store Mistery“ war es dann soweit: Unter den dauerhaften Wirbeln auf der Double-Bass-Drum und der sich aufschaukelnden Wogen aus dröhnenden und wummernden Akkorden, gab die Tonanlage auf einmal den Geist auf. Reed ging mit erhobener Faust in die Zwangspause. Nach fünfminütiger Pause gab es noch „Sweet Jane“ und „Vicious“ obendrauf – laut, wütend, wüst. Was für ein Abend.
Ein für den WDR aufgezeichnetes Konzert der Tournee aus Düsseldorf zwei Abende zuvor gibt es hier in voller Länge hier zu sehen:
Zwei.
Eine nächste Begegnung fand in einem ganz anderen Rahmen statt. Überraschend wurde Lou Reed für das „Festival der neuen Musik“ angekündigt. Irgendjemand war tatsächlich auf die Idee gekommen die legendäre „Metal Machine Music“ vor Publikum aufzuführen – im gediegenen Haus der Berliner Festspiele mit akustischen, klassischen Instrumenten. Lou Reed kam dazu, ließ vorab einige neue Instrumental-Stücke aus irgendeinem Theaterprojekt aufführen, gab Dietrich Dietrichsen ein herrlich miesgelauntes Interview, während dessen er einen Besucher anschnautzte, der davon ein Foto machen wollte. Was dann folgte, wurde vom Festivaldirektor mit den Worten: „ Normalerweise bitten wir nun darum, die Handys auszuschalten – aber ich denke, dass wird heute Abend nicht nötig sein…“ ganz treffend angekündigt. Das Zeitkratzer-Ensemble brachte die sich überlagernden Feedbackschleifen werkgetreu zu Gehör, der Laustärkepegel war enorm. Der Krach stand wie eine Wand spürbar im Saal. Mit jeder Minute leerte sich der Saal zusehends. Das Publikum, das sich eher aus Freunden der experimentellen Gegenwartsklassik als aus Rock-, Drone- oder Industrialjüngern bestand, war perplex. In eine der wenigen Atempausen rief ein empörter Mann im Cord-Jackett beim Rausgehen: „Das ist Körperverletzung!“. Gegen Ende der Session stieg Reed noch mit seiner Gitarre ein. Im Sitzen stampfte er sich durch die Verzerrer-Pedalerie, die vor Ihm auf dem Boden ausgebreitet stand. Weniger ein Konzert als eine körperliche Erfahrung in Sachen Schalldruck. Noch so ein unvergessener Abend.
Drei.
„A unique and intimate evening of poetry and music“ stand auf dem Plakat, mit dem der Abend im Schillertheater angekündigt würde. Wir waren daher auf fast alles gefasst – nur eben nicht darauf, dass Lou Reed eine umfassende Retrospektive seines Schaffens in Kammerrock-Rahmen (und mit zeitweiser Live-Thai-Chi- Begleitung) aufführen würde. Aus allen Phasen des Werkes waren Meilensteine vertreten: Das unvermeidliche „Sweet Jane“ gleich am Anfang, das verträumte „Sunday Morning“ vom ersten Velvet Underground-Album, der kaputte S/M-Walzer „Rock Minuet“, das metallisch fauchende „The Day John Kennedy Died“. Dazu Auszüge aus „Berlin“ (das wir Jahre später nochmal im Ganzen serviert bekommen sollten) und ein unglaubliches „Venus in Furs“, bei dem das Chellosolo von Jane Scarpantoni auf uns niederprasselte wie Peitschenhiebe auf arme Sünder. „Street Hassle“, in dessen Break Reed uns in die Stille hinein anbellte:
„…You know what that‘s called?
You know what that‘s called?
…BAD LUCK! – One, Two, Three…“,
ließ mich sprachlos zurück. „Set the Twilight Reeling“ schraubte sich majestätisch unter das Saaldach. Das bittersüße „Candy Says“ wurde damals von dem –damals noch unbekannten- Antony auf eine Art vorgetragen, die uns buchstäblich vom Hocker riss.
Wir taumeln mitgenommen aus dem bereits lange abgemeldeten Theater zurück in Richtung Technische Universität zur U2. Wieder überrascht, wieder umgehauen, wieder begeistert von der enormen Wucht und Kraft dieser großen Kunst.
Lou Reed ist am 27. Oktober 2013 bei New York gestorben.
You can‘t beat Guitar, Bass, Drums.