Schöne neue Welt: “Uber Eats Music Hall” heißt die praktische Halle mit dem Charme eines gehobenen Multiplex-Kinos am gruseligsten Platz der Stadt jetzt also. Soll uns heute nicht weiter stören. Die Sitze sind gut, die Raumluft angenehm und die Soundanlage perfekt eingeregelt. Der Ton ist sogar so überragend, dass der Rezensent der Süddeutschen Zeitung später herausgehört haben will, dass die zum Einsatz kommenden Rasseln wohl “mit getrockneten Koboldaugen” gefüllt sein müssen…
Rückblende I: Sommer 1998. Im Dauerniesel auf dem ehemaligen Flughafen Butzweiler Hof bei Köln steigern sich Portishead in ein ebenso mitreißendes wie episches Festival-Set, welches in einer wüsten Open-Air-Version des Trümmer-Epos “Sour Times” endet. Die Zeit steht für einen Moment still und bei einem Bielefelder Zivildienstleistenden im Publikum stellt sich der Eindruck ein, dass es wohl doch Gegenwartsmusik gibt, die einem ähnlich tief ins Herz fahren kann, wie er es bislang nur bei Kunstschaffenden erfahren hat, die man bereits zum damaligen Zeitpunkt “Altrocker” nennt.
Zurück im Jahr 2024: Heute würde man wohl besser Altrockende schreiben. Egal. Beth Gibbons stellt also hier Ihr aktuelles Album auf einer sehr kurzen Tournee mit nur einer Station in Deutschland konzertant vor. Streng genommen handelt es sich dabei um Ihr erstes Soloalbum – denn das 21 (!) Jahre zuvor erschiene “Out of Season” war ja eine Zusammenarbeit einem gewissen “Rustin Man” aus dem Talk Talk-Umfeld. Apropos:
Rückblende II – Winter 2003. Im rappelvollen Audimax der Universität der Künste in der Charlottenburger Fasanenstraße, in Laufweite des Café Hardenberg. Nach einer umwerfenden, zarten wie dynamischen und kompakten Performance der Jahrhundertplatte “Out of Season”: Beth Gibbons stakst zur Zugabe auf die Bühne und stimmt – ernsthaft – Lou Reeds unsterbliche Selbsthass / Selbstermächtigungs-Hymne “Candy Says” an. Als ob der UdK-Hausmeister zu diesem Zeitpunkt nicht bereits das halbe Publikum ergriffenheitshalber mit dem Wischmob vom Boden des Saals hätte aufnehmen können. Eines der wunderbarsten Konzerte, ever.
Zurück in die Lieferdienstplattform-Halle, hier und jetzt. Das Konzert ist umwerfend schön: Die Lichtregie elegant und mysteriös zu gleich, die Musiker verschwinden in Schattenwelten. Die hymnischen Refrains werden in schwelgerisch-schönem Gegenlicht ausgeleuchtet. Jede quietschende Geige, singende Säge, die Koboldaugen-Rassel und die beiden Rumpelschlagwerke sind scharf und dynamisch abgebildet zu hören. Die Band – oder besser: das Indie-Orchester – spielt rumpelig, lässig, dynamisch und tight zugleich. Beth Gibbons’ Stimme schwebt über alldem und geht wie eh und je durch Mark, Herz, Seele und Bein. Ungewohnt, aber dann doch nicht völlig überraschend: Das Publikum hört ergriffen und staunend zu, quatscht nicht dazwischen und lässt die Smartphones in den Taschen. Fabelhaft.
Kern des Programms bildet das kürzlich erschienene und gefeierte Album “Lives Outgrown” – ergänzt um zwei geschmackvoll ausgewählte Stücke aus der vorgenannten Wunderplatte: “Mysteries” und das vergleichsweise beschwingte “Tom the Model“. Fast als ein Fremdkörper wird gegen Ende noch “Roads” aus dem Portishead-Debut in einer minimierten, ent-trip-hop-ten Version beigestellt. Zeitloser Klagesang. Jetzt brechen alle Dämme und die Handys kommen doch noch raus.
In der Gesamtschau steht ein schwer fassbares, monolithisches Werk im Raum: Ist das Folkmusik? Symphonisches Singer-Songwritertum? Oder Tom-Waits-mässiges Beschwörungs-Gerumpel mit weißer Soulstimme? Schwer zu sagen und ebenso schwer zu sagen, warum ist das alles hier und jetzt so unfassbar schön und bewegend ist.
Diese Stimme, die sich einer Generation eingeschrieben hat – natürlich. Bestimmt sind es aber auch die Lieder selbst, die gleichzeitig zeitlos wie gegenwärtig wirken, die ganz konkrete Themen benennen und trotzdem anschlussfähig und offen bleiben. Die erst etwas schratig-verschroben und widerspenstig erscheinen mögen – um den Hörer dann wiederum mit bezaubernden und erhabenen Melodien zu umarmen.
Das Licht geht an. Beth Gibbons bedankt sich überschwänglich, schlüpft in Ihre Flip-Flops und geht ab. Ein ganz großes Konzert ist zu Ende und wird lange nachwirken.
“It just reminds us … all we have … is here and now”